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Durch Deutschland muß ein Ruck gehen

von Gerhard Müller
email: muellerg@informatik.tu-muenchen.de

Unser Bundespräsident Roman Herzog hat am 26. April in Berlin eine äußerst bemerkenswerte Rede mit dem Thema Aufbruch ins 21. Jahrhundert gehalten. Die Rede kann unter der URL http://www.bundespraesident.de/n/nph-b/reden/de/berlin.htm?reden/deutsch1997.map nachgelesen werden.

Ich habe die Rede im Fernsehen gesehen, und ich muß sagen, sie hat mich tief beeindruckt. Unser Bundespräsident nennt die Probleme beim Namen. Er spricht aus, was viele von uns schon seit längerer Zeit merken: Wir haben sehr große Probleme; es wird Zeit, gemeinsam dagegen etwas zu tun. Er stellt eine Vision dar, wie Deutschland im 21. Jahrhundert aussehen wird. Ich muß zugeben, mir gefällt seine Vision. Doch eine Vision bleibt eine Vision, so lange sie nicht in Taten umgesetzt wird.

Ich möchte an dieser Stelle die für die Hochschule, und speziell für Informatiker, wesentlichen Teile zitieren, und daraus ableiten, was wir dazu tun können, um die Vision, die unser Bundespräsident aufzeigt, wahr werden zu lassen.

Die Zitate (kursiv) sind in der gleichen Reihenfolge direkt aus der schriftlichen Quelle herauskopiert. Ich hoffe, sie nicht zu sehr aus dem Zusammenhang zu reißen.

Wer Initiative zeigt, wer vor allem neue Wege gehen will, droht unter einem Wust von wohlmeinenden Vorschriften zu ersticken.

Dies gilt immer noch für die TU München. Beispiel: Wer sich schon einmal mit Prüfungsordnungen auseinandergesetzt hat, weiß, wovon ich spreche. Insbesondere die ADPO (Allgemeine DiplomPrüfungsOrdnung) der TU München aus dem Jahr 19XX hemmt in letzter Zeit immer mehr Modernisierungen der Prüfungsordnungen der verschiedenen Fächer. Hier wäre ein neuer, einheitlicher Wurf mit mehr Möglichkeiten und klareren Formulierungen ein großer Fortschritt.

[...] wer heute in unsere Medien schaut, der gewinnt den Eindruck, daß Pessimismus das allgemeine Lebensgefühl bei uns geworden ist.

Das ist ungeheuer gefährlich; denn nur zu leicht verführt Angst zu dem Reflex, alles Bestehende erhalten zu wollen, koste es, was es wolle. Eine von Ängsten erfüllte Gesellschaft wird unfähig zu Reformen und damit zur Gestaltung der Zukunft. Angst lähmt den Erfindergeist, den Mut zur Selbständigkeit, die Hoffnung, mit den Problemen fertigzuwerden.

Jede Art von Änderung erzeugt Angst. Angst vor dem Verlust von Besitzständen, Angst vor dem Verlust von bekannten Strukturen. Im Hochschulbereich fehlt es an Kreativität und Mut, mit den immer knapper werdenden Mitteln auszukommen. Neue Wege müssen beschritten werden, um mit der Situation fertig zu werden. Beispiel: In einer mir bekannten Universität werden in den Semesterferien Kurse gehalten, für die Geld verlangt wird. Und die Universität ist bestimmt kein Einzelfall. Das Wissen daf''r ist an den Universitäten vorhanden. Die Räumlichkeiten auch.

Die einfache Wahrheit ist heute doch: Niemand darf sich darauf einrichten, in seinem Leben nur einen Beruf zu haben. Ich rufe auf zu mehr Flexibilität! In der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts werden wir alle lebenslang lernen, neue Techniken und Fertigkeiten erwerben und uns an den Gedanken gewöhnen müssen, später einmal in zwei, drei oder sogar vier verschiedenen Berufen zu arbeiten.

Gerade hier sehe ich eine großartige Möglichkeit für Universitäten. Statt junge Menschen in einem Beruf ``gründlichst'' und möglichst umfassend auszubilden, sollten wir vielleicht das lebenslange Lernen wörtlich nehmen und, gerade in Bereichen wie der Informatik, wo Wissen so schnell veraltet, berufsbegleitende Kurse einrichten. Bedarf an aktuellem Wissen ist vorhanden (welcher auch mit Geld bezahlt werden würde), und warum sollen Universitäten nur vor dem Berufsstart für den Beruf ausbilden? Gerade die Rückkopplung mit der Praxis wäre äußerst wünschenswert und hilfreich, und eine unerhörte Motivationsquelle für die normalen Studierenden. Die Universität könnte wieder zum Ort des Wissens- und Erfahrungsaustausches werden. Alle zwei Wochen einen Tag, das wäre ein Angebot, dem sicher viele Firmen aufgeschlossen gegenüberstehen könnten.

Ich meine, wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag zugunsten der Zukunft. Alle, wirklich alle Besitzstände müssen auf den Prüfstand. Alle müssen sich bewegen. Wer nur etwas vom anderen fordert - je nach Standort von den Arbeitgebern, den Gewerkschaften, dem Staat, den Parteien, der Regierung, der Opposition -, der bewegt gar nichts.

Zuerst müssen wir uns darüber klar werden, in welcher Gesellschaft wir im 21. Jahrhundert leben wollen. Wir brauchen wieder eine Vision. Visionen sind nichts anderes als Strategien des Handelns. Das ist es, was sie von Utopien unterscheidet.

Auch dieses betrifft uns. Die Diskussion um Professuren auf Zeit oder auch die Möglichkeit der Assistenzprofessur sind schon lange in der Diskussion. Die Studiengänge dauern immer noch zu lange, auch wenn das bisher erreichte beachtlich ist. Wir brauchen Alternativen zu 6-jährigen Studiengängen, die trotzdem gesellschaftlich anerkannt sind. Was spricht dagegen, zumindest darüber nachzudenken, ob ein Bachelor of Science (BSC) nicht auch schon nach drei Jahren einem die Möglichkeit gäbe, schneller in den Beruf zu kommen, wenn man denn will? Eine Untersuchung, was Studenten wirklich wünschen und brauchen, um ihr Studium erfolgreich und schnell abschließen zu können, gibt es so etwas? Werden entsprechende Untersuchungen berücksichtigt? Ich habe nicht immer den Eindruck. Viel Geld im Hochschulbereich kann und muß in Zukunft, wenn es nur richtig eingesetzt wird, wesentlich mehr Nutzen stiften.

Die Vision der Technischen Universität sehe ich noch nicht klar. Auf der einen Seite wünscht die Hochschulleitung eine klarere Profilbildung (sehr wünschenswert) und eine Elite-Bildung (auch nicht verkehrt), die primär für die Forschung ausbildet (das muß hinterfragt werden). Auf der anderen Seite steht die Praxis: Die Universität ist Ausbildungsstätte, Vorbereitung auf den Beruf. So wird es zumindest von der Mehrzahl der Studierenden gesehen. Es sollte klar gesagt werden, was das Ziel unserer Universität ist.

Wir brauchen aber nicht nur den Mut zu solchen Visionen, wir brauchen auch die Kraft und die Bereitschaft, sie zu verwirklichen. Ich rufe auf zur inneren Erneuerung! Vor uns liegt ein langer Weg der Reformen.

Ich wünsche mir dabei, daß die Reformen auch welche sind und nicht zu ``Reförmchen'' verkommen. Wir brauchen neue Strukturen, neue Visionen, und hierbei sollte nicht der minimale Konsens den Ausschlag geben. Ich hoffe, uns bleibt das endlose Debattieren in allen und jedem Gremium erspart, ein Konsens kann auf die lange Sicht das größere Übel darstellen. Ich wünsche den leitenden Personen, daß sie die Kraft haben, lieber eine klare Linie mit Visionen durchzusetzen, als den Wunsch haben, es allen recht zu machen.

Den folgenden Abschnitt halte ich für zentral und richtungsweisend. Die Bildungspolitik ist in den letzten Jahren immer mehr aus dem Blickfeld geraten. Wer interessiert sich heute noch für Studierende und deren Probleme? Und doch wird die Bildung ganz wesentlich darüber mitbestimmen, wie die Stellung Deutschlands in der Welt in 20 Jahren aussieht.

Deswegen gebe ich der Reform unseres Bildungssystems so hohe Priorität: Bildung muß das Mega-Thema unserer Gesellschaft werden. Wir brauchen einen neuen Aufbruch in der Bildungspolitik, um in der kommenden Wissensgesellschaft bestehen zu können.

Das ist nicht primär eine Frage des Geldes. Zuerst brauchen wir weniger Selbstgefälligkeit: Wie kommt es, daß die leistungsfähigsten Nationen in der Welt es schaffen, ihre Kinder die Schulen mit 17 und die Hochschulen mit 24 abschließen zu lassen? Es sind - wohlgemerkt - gerade diese Länder, die auf dem Weltmarkt der Bildung am attraktivsten sind. Warum soll nicht auch in Deutschland ein Abitur in zwölf Jahren zu machen sein? Für mich persönlich sind die Jahre, die unseren jungen Leuten bisher verloren gehen, gestohlene Lebenszeit.

Auch die Ausbildungsinhalte gehören auf den Prüfstand. Es geht in Zukunft noch weniger als bisher nur um die Vermittlung von Wissen. Mit dem Tempo der Informationsexplosion kann der Einzelne sowieso nicht mehr Schritt halten. Also müssen wir die Menschen lehren, mit diesem Wissen umzugehen. Wissen vermehrt sich immer schneller, zugleich veraltet es in noch nie dagewesenem Tempo. Wir kommen gar nicht darum herum, lebenslang zu lernen. Es kann nicht das Ziel universitärer Bildung sein, mit dreißig einen Doktortitel zu haben, dabei aber keine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt. Unsere Hochschulen brauchen deshalb mehr Selbstverwaltung. Ich ermutige zu mehr Wettbewerb und zu mehr Spitzenleistungen. Ich weiß, daß solche Vorschläge schon lange auf dem Tisch liegen. Auch hier ist das Tempo der Umsetzung das Problem. Wir dürfen nicht so tun, als könnten wir die Schul- und Hochschulreform den Spezialisten überlassen. Es geht um eine zentrale Aufgabe. Sie betrifft die Zukunft unserer Gesellschaft insgesamt.

Gerade im dritten zitierten Abschnitt sehe ich Handlungsbedarf. Es darf nicht mehr passieren, daß Faktenwissen das ausschlaggebende Ziel im Studium ist. Doch leider hat sich diese Auffassung noch nicht durchgesetzt. Ich wünsche mir, im Studium zu lernen, wie ich vorgehen muß, um komplexe Probleme zu lösen. Ich wünsche mir, im Studium zu lernen, wie man das erworbene Wissen erfolgreich in die Praxis umsetzt (Stichwort: BWL-Grundkenntnisse für alle Studienrichtungen). Ich wünsche mir, das Studium flexibler zu gestalten (Beispiel: vorlesungsbegleitende Prüfungen auch im Hauptstudium). Ich wünsche mir, mit neuen Formen des Lernens zu experimentieren (Stichwort: Nutzung multimedialer Techniken). Und ich wünsche mir viel Praxis, was an einer technischen Universität nicht zu viel verlangt sein sollte.

Auch wir müssen rein in die Zukunftstechnologien, rein in die Biotechnik, die Informationstechnologie. Ein großes, globales Rennen hat begonnen: die Weltmärkte werden neu verteilt, ebenso die Chancen auf Wohlstand im 21. Jahrhundert. Wir müssen jetzt eine Aufholjagd starten, bei der wir uns Technologie- und Leistungsfeindlichkeit einfach nicht leisten können.

Die Aufgaben, vor denen wir stehen, sind gewaltig. Die Menschen fühlen sich durch die Fülle der gleichzeitig notwendigen Veränderungen überlastet. Das ist verständlich, denn der Nachholbedarf an Reformen hat sich bei uns geradezu aufgestaut. Es wird Kraft und Anstrengung kosten, die Erneuerung voranzutreiben, und es ist bereits viel Zeit verloren gegangen. Niemand darf aber vergessen: In hochtechnisierten Gesellschaften ist permanente Innovation eine Daueraufgabe! Die Welt ist im Aufbruch, sie wartet nicht auf Deutschland. Aber es ist auch noch nicht zu spät. Durch Deutschland muß ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen [...]

Nun, lieber Leser, bitte packe Dich an die Nase, und sage, ja, ich will mitmachen. Wir können uns es nicht mehr lange leisten, zu wehklagen und uns mit Selbstmitleid zu überschütten: Wir können und müssen mitmachen, um uns, unsere Gesellschaft, unsere Universität wieder flott zu kriegen. Es muß ein Ruck durch Deutschland gehen, durch uns alle.

Und wieder glaube ich an die jungen Leute. Natürlich kenne auch ich die Umfragen, die uns sagen, daß Teile unserer Jugend beginnen, an der Lebens- und Reformfähigkeit unseres ``Systems'' zu zweifeln. Ich sage ihnen aber: Wenn ihr schon ``dem System'' nicht mehr traut, dann traut euch doch wenigstens selbst etwas zu!

Ich bin überzeugt: Wir können wieder eine Spitzenposition einnehmen, in Wissenschaft und Technik, bei der Erschließung neuer Märkte. Wir können eine Welle neuen Wachstums auslösen, das neue Arbeitsplätze schafft.

Das Ergebnis dieser Anstrengung wird eine Gesellschaft im Aufbruch sein, voller Zuversicht und Lebensfreude, eine Gesellschaft der Toleranz und des Engagements. Wenn wir alle Fesseln abstreifen, wenn wir unser Potential voll zum Einsatz bringen, dann können wir am Ende nicht nur die Arbeitslosigkeit halbieren, dann können wir sogar die Vollbeschäftigung zurückgewinnen. Warum sollte bei uns nicht möglich sein, was in Amerika und anderswo längst gelungen ist? Wir müssen jetzt an die Arbeit gehen. Ich rufe auf zu mehr Selbstverantwortung. Ich setze auf erneuerten Mut. Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.

Ich hoffe, ich habe euch etwas zu mehr Engagement für uns, unsere Heimat, unsere Universität aufrütteln können, und wünsche uns allen, daß wir in 20 Jahren lächelnd zurückblicken können und sagen, ja, da ging ein Ruck durch Deutschland, von da an ging es endlich wieder bergauf...

Gerhard

P.S.: Wer jetzt glaubt, ich habe etwas gegen irgendwelche Personen, Personengruppen, oder Institutionen, der täuscht sich. Ich fordere uns alle auf, nicht in Lethargie zu erstarren, sondern unsere Hochschule zu etwas ganz besonderem zu machen.

 


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