FS: Herr Scheurle, Sie sind als Dekan nominiert. Am
besten stellen Sie sich und Ihr Arbeitsgebiet einmal kurz vor.
Herr Scheurle: Ich habe an der TU Stuttgart studiert, promoviert
und habilitiert und war lange Zeit an Universitäten in den USA
tätig. Erst war ich an der University of California in Berkeley, dann
in Providence an der Brown-University und schließlich als
»Full-Professor« an der Colorado State University in Fort
Collins. Anschließend wurde ich auf eine C4-Professur nach Hamburg
berufen. Seit 1996 arbeite ich an der TU München, wo ich den Lehrstuhl
für Höhere Mathematik und Analytische Mechanik innehabe. Mein
mathematisches Arbeitsgebiet würde ich mit Theorie und Anwendungen
dynamischer Systeme kurz umreißen, wobei das Schwergewicht auf
dynamischen Systemen liegt, die durch Differentialgleichungen, insbesondere
von partiellen Differentialgleichungen beschrieben werden. Eine wichtige
Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch Differentialgleichungsmodelle,
die in Anwendungsbereichen wie z.B. in der Strömungsmechanik und
Elastizitätstheorie oder bei biologischen und chemischen
Fragestellungen auftreten. Dies ist neben Themen aus einem breit
gefächerten Bereich der Anaylsis auch der Kern meiner
Lehrtätigkeit. Das Schwergewicht meiner eigenen Forschung liegt auf
der sogenannten Verzweigungstheorie. Dabei geht es grob gesagt um die
Frage, wie sich die Dynamik eines Modellsystems bei Variation von
irgendwelchen Parametern ändert. Einfachster Fall: Man hat einen
zunächst stabilen Gleichgewichtszustand. Wenn ein gewisser Parameter
verändert wird, wenn z.B. mehr Energie in das System gepumpt wird,
dann kann es passieren, daß dieser Gleichgewichtszustand instabil
wird, d.h. das System entfernt sich mit der Zeit aus der Nachbarschaft
dieses Zustands. Wo bewegt sich das System dann gegebenenfalls hin? Unter
einer Verzweigung versteht man das Phänomen, daß sich dann neue
stabile Zustände - auch zeitabhängige Zustände - einstellen.
Die Verzweigungtheorie befasst sich mit der Frage, derartige Phänomene
mathematisch zu beschreiben und zu analysieren.
FS: Wenn Sie als Dekan gewählt werden, vertreten Sie
ja die ganze Fakultät und damit auch deren Studierenden, also uns
Mathestudenten. Wie stellen Sie sich eine Zusammenarbeit mit den
Studierenden allgemein und mit der Fachschaft und den FBRs im Speziellen
vor?
Herr Scheurle: Wie es grundsätzlich mein Anliegen ist,
möglichst Vertreter vieler Interessen in alle Entscheidungsprozesse
einzubeziehen, so gilt das natürlich ganz besonders für die
Studierenden. D.h. was immer für die Studierenden von Belang ist oder
sie auf die eine oder andere Weise betrifft, werde ich das mit ihnen auch
besprechen und bei entsprechenden Diskussionen bzw. Entscheidungsprozessen
berücksichtigen.
FS: Also kommen auch Studenten in die Kommissionen mit
hinein?
Herr Scheurle: Wenn betreffende Kommissionen gebildet werden, dann
gehören dort sicher auch Vertreter der Studierenden hinein. Aber die
Einbeziehung der Studierenden bzw. ihrer Vertreter kann auch ganz informell
erfolgen. Ich komme gelegentlich zu Ihnen in die Fachschaft oder wir
besprechen Dinge, wenn wir uns zufällig irgendwo treffen.
FS: Könnten Sie es sich auch vorstellen, eine
Dekanssprechstunde speziell für Studierende zu machen?
Herr Scheurle: Das finde ich sehr vernünftig und sinnvoll;
eine prima Idee. Diesen Vorschlag werde ich gegebenenfalls sofort
aufgreifen.
FS: Eine andere Frage. Der Umzug nach Garching steht kurz
bevor, welche Ziele würden Sie für Garching gerne
erreichen?
Herr Scheurle: Also zunächst einmal möchte ich betonen,
daß ich voll und ganz hinter dem geplanten und bevorstehenden Umzug
nach Garching stehe. Ich bin der Meinung, daß die Infrastruktur, die
uns im Moment hier zur Verfügung steht sowie die Tatsache, daß
wir relativ weit verstreut sind in der Stadtmitte, ist einem Institut wie
dem Zentrum Mathematik nicht angemessen. Deswegen freue ich mich darauf,
daß wir alle zusammen in einem großen Institutsgebäude in
Garching Platz finden werden, welches - davon gehe ich aus - relativ modern
ausgestattet und eingerichtet werden wird. Wir sollten versuchen, darauf
einen möglichst großen Einfluss zu nehmen. Dies gilt sowohl
für die Einrichtung der Hörsäle, angefangen mit den Tafeln,
die hier zum Teil in einem sehr schlechten Zustand sind, über
Overhead-Projektoren, Multimediaeinrichtungen bis hin zur Belüftung,
als auch für die Einrichtung der Büros und die Ausgestaltung der
sogenannten Freiflächen. Hier muß auch studentischen Belangen
Rechnung getragen werden, z.B. in Form von Sitzecken. Das ist für mich
sehr wichtig und ich sehe dabei keine Alternative zu Garching.
Natürlich, und das sage ich ganz offen, wäre ein entsprechendes
Institutsgebäude in der Stadtmitte das Ideale, aber dies halte ich
für total unrealistisch.
FS: Welche Ziele haben Sie für die
Fakultät?
Herr Scheurle: Exzellenz in Forschung und Lehre, Vollendung der
Umsetzung des Strukturentwicklungsplans der Fakultät, Konsolidierung
der Reformaktivitäten
FS: Der Dekan vertritt ja viele Interessen. Er hat sich
um die Lehre, die Forschung, die Verwaltung zu kümmern. Wo
könnten Sie sich hier Verbesserungen vorstellen?
Herr Scheurle: Man kann sich sicher in allen drei Bereichen
Verbesserungen vorstellen. Ich will mich hier auf die Lehre
beschränken. Neben der Einführung neuer Mathe-Studiengänge
haben wir uns in den letzten Jahren sehr viel Mühe mit der
Konzipierung des Grundstudiums an unserer Fakultät im allgemeinen
gemacht. Dafür wurden jetzt auch gute Lösungen gefunden.
Insbesondere wurde z.B. erreicht, daß ein Wechsel zwischen
verschiedenen Mathe-Studiengängen bis zum Vordiplom bzw. zur
Zwischenprüfung relativ einfach ist. Jetzt ist es an der Zeit, auch
über entsprechende Verbesserungen im Hauptstudium nachzudenken, was
bisher immer wegen des Grundstudiums verschoben worden ist. Es sollte im
Hauptstudium einen »Leitfaden« geben, welcher den Studierenden
kanonische Wege zum Examen, einschließlich der Examensarbeit
(Diplomarbeit), aufzeigt. Man könnte z.B. gewisse Gruppen von
grundlegenden Vorlesungen (»Grundvorlesungen«) festlegen, aus
denen sich die Studierenden jeweils welche auswählen können.
Diese Vorlesungen sollten einen grundlegenden Charakter haben und für
alle Studiengänge von Bedeutung sein. Z.B. könnten zu einer
Gruppe Maß- und Integrationstheorie, Funktionalanalysis, Topologie
und Algebra gehören. Viele andere Vorlesungen benötigen
später derartige Grundlagen. In darauffolgenden Semestern könnte
man dann vertiefende Spezialvorlesungen
(»Wahlpflichtvorlesungen«) anbieten, danach einschlägige
Seminare, damit sich die Studierenden bei Interesse in ein entsprechendes
Gebiet einarbeiten können. So könnten sie dann in diesem Fach
später auch ohne weitere Einarbeitungszeit eine Diplomarbeit oder
Staatsexamensarbeit anfertigen.
FS: Müsste man dazu nicht wieder die
Prüfungsordnung ändern?
Herr Scheurle: Ich denke, prüfungsmäßig müsste
sich da nicht unbedingt viel ändern. Sie müssten wie bisher
Fächer für die drei Prüfungsblöcke angeben, wobei
darunter dann natürlich auch Grundvorlesungen sein dürften. Je
nach ihrer Zugehörigkeit zu einer der Gruppen, wären sie zum
Block »Reine Mathematik« oder »Angewandte
Mathematik« zu rechnen. Bei Wahlpflichtfächern müssten die
Dozenten wie bisher jeweils erklären, zu welcher dieser Kategorien sie
zu zählen sind.
FS: Forschung ist ja auch ein wichtiger Aspekt. Sie haben
für das nächste Semester ein »Forschungsfreisemester«
genehmigt bekommen. Welchen Stellenwert würden Sie Forschung noch
geben während ihrer Amtszeit als Dekan?
Herr Scheurle: Also, grundsätzlich ist für mich Forschung
gleichbedeutend mit Lehre, in jeder Beziehung. Ich möchte sogar so
weit gehen und sagen: An einer Universität, wo man ein
wissenschaftliches Studium absolvieren möchte, gibt es ohne Forschung
keine adäquate Lehre und umgekehrt sollten an einer Universität
die Studierenden durch die Lehre längerfristig bis zur modernsten
Forschung hingeführt werden und schließlich z.B. im Rahmen von
Diplomarbeiten auch in die Forschung mit einbezogen werden. Dazu sind
meiner Meinung nach nur Dozenten in der Lage, die in der einen oder anderen
Form selbst aktiv forschen.
FS: Aber die meisten Professoren nehmen sich ein
Freisemester, um dann zu mehr Kongressen zu fahren und sich wirklich mal in
ihr Gebiet so richtig reinvertiefen zu können. Wie wär das dann,
wenn Sie Dekan wären?
Herr Scheurle: Wenn ich gewählt werde, muß ich mein
Forschungsfreisemester betreffend natürlich große Abstriche
machen. Das ist klar. Ich würde mich dann voll und ganz auf das
Dekansamt stürzen. Allerdings hätte ich während des
Forschungsfreisemester den Vorteil, keine Lehrveranstaltung abhalten zu
müssen und könnte die Zeit, die ich sonst in die Lehre einbringen
würde, zusätzlich für die Forschung nutzen.
FS: Sie meinen, Sie würden sozusagen Ihr
Forschungsfreisemester eher in ein Dekansfreisemester
umwandeln?
Herr Scheurle: Wenn Sie so wollen, ja!
FS: Warum denken Sie, daß gerade Sie für das
Amt des Dekans besonders geeignet sind?
Herr Scheurle: Ich bin schon relativ lange in diesem
»Geschäft« tätig und konnte in dieser Zeit viel
Erfahrung sammeln - nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch im
Ausland, insbesondere in den USA. Selbst in Deutschland war ich an mehreren
Universitäten hauptamtlich tätig. Dadurch habe ich viele
unterschiedliche Organisationsstrukturen der akademischen Selbstverwaltung
sowie von Lehre und Studium an Universitäten kennengelernt. Ich habe
mich stets innerhalb der akademischen Selbstverwaltung engagiert.
Insbesondere habe ich gleich nach meiner Berufung an die TU München
drei Jahre lang das Amt des geschäftsführenden Direktors im
Zentrum Mathematik ausgeübt und in dieser Funktion unseren Fachbereich
bestens kennengelernt sowie die neue Verwaltungs- und Organisationsstruktur
maßgeblich mitgestaltet. Ich denke, daß ich inzwischen
über die Stärken und Schwächen des Fachbereichs sehr genau
Bescheid weiß. Von daher traue ich mir sehr wohl zu, das Amt des
Fachbereichssprechers (Dekan) zu übernehmen.
FS: Herr Scheurle, vielen Dank für dieses Gespräch.